Einschlafen dürfen, wenn man müde ist

“Einschlafen dürfen, wenn man müde ist” ist der Anfang eines Zitats von Hermann Hesse. “Einschlafen dürfen, wenn man müde ist” war auch der Anfang der Trauerrede für meinen verstorbenen Vater. Und “Einschlafen dürfen, wenn man müde ist” treibt mir jedes Mal, wenn ich es lese, die Tränen in die Augen, weil es so schön ausdrückt, was ich fühle: dass jemand, der unheilbar krank ist und dessen Lebensqualität nachgelassen hat oder sogar ganz verschwunden ist, und der keine Kraft mehr hat, noch eine weitere Behandlung durchzustehen, noch eine Mahlzeit zu sich zu nehmen, noch einmal das Verständnis der Menschen um ihn herum zu suchen, das Recht hat, einzuschlafen und ganz friedlich aus diesem Leben zu gehen.

Mein Vater ist am 6. Oktober 2022 im Beisein meiner Mutter und mir friedlich gestorben. Und so herzzerreißend traurig dies auch war, so war es doch auch eine Erleichterung zu wissen, dass er nicht mehr leidet und nach einer schrecklichen Krankheit seinen Frieden gefunden hat.

Es ist schwer zu sagen, wann genau das alles begann. Die Symptome können schon seit Jahren vorhanden gewesen sein, aber wir hatten sie einfach nicht erkannt. Zum Beispiel wurde seine Handschrift, die noch nie gut war, regelrecht unleserlich. Außerdem fühlte er sich oft müde und lethargisch. Er ließ oft Dinge fallen und zerbrach sie. Gelegentlich litt er auch unter Gedächtnisverlust, so dass er sich an bestimmte Ereignisse und den genauen Zeitpunkt ihres Stattfindens nicht mehr erinnern konnte. Seine Stimme, die einst stark und fest gewesen war, wurde leiser und monotoner. Aber das alles geschah so langsam, dass wir die Veränderungen nicht bemerkten und ganz sicher keinen Zusammenhang zwischen seinen Symptomen und einer möglichen neurodegenerativen Erkrankung sahen.

Anfang 2021 begann er jedoch unter Schlaflosigkeit, Inkontinenz und Gleichgewichtsstörungen zu leiden. Zu diesem Zeitpunkt baten wir ihn inständig, einen Arzt aufzusuchen. Schließlich lenkte er ein und suchte einen Neurologen auf. Dieser Neurologe diagnostizierte sofort die Parkinson-Krankheit bei ihm. Er verschrieb meinem Vater Medikamente, von denen wir wussten, dass sie die Krankheit nicht heilen würden – es gibt noch keine Heilung für die Parkinson-Krankheit -, aber hofften, dass sie das Fortschreiten der Krankheit zumindest verlangsamen würden. Wir waren voller Hoffnung, denn die Ärzte sagten, dass mein Vater zwar ziemlich krank sei, aber dass er noch viele Jahre ein fast normales Leben führen könne.

Doch in den folgenden Wochen und Monaten verschlimmerten sich die Symptome meines Vaters trotz der Medikamente. Besonders die Gleichgewichtsstörungen wurden schlimmer und er stolperte oft und fiel hin. Seine Müdigkeit und Vergesslichkeit wurden schlimmer; manchmal war er zeitlich und örtlich nicht mehr orientiert. Er verlor das Interesse an vielen Dingen, die er zuvor geliebt hatte, darunter Unterhaltungssendungen im Fernsehen und Musikvideos auf Youtube. Bald wurde meine Mutter von seiner liebenden Ehefrau zu seiner Vollzeitpflegekraft. Als mein Vater anfing, Tag und Nacht extrem unruhig zu werden, ständig hinzufallen, oft Dinge zu sagen, die für uns keinen Sinn ergaben, und immer mehr Dinge zu tun, ohne zu wissen oder sich daran zu erinnern, dass er sie tat oder getan hatte, wurde klar, dass mein Vater nicht nur an der Parkinson-Krankheit, sondern auch an einer Parkinson-Demenz litt.

Meine Mutter kümmerte sich so lange wie möglich um meinen Vater zu Hause. Bei meinen häufigen Besuchen aus Irland sah ich mit wachsender Sorge, wie sehr sie beide unter Druck standen: meine Mutter, weil sie als Vollzeitpflegekraft meines Vaters sehr belastet war und es nicht verkraften konnte, dass sich sein Zustand so schnell verschlechterte, und mein Vater, weil er merkte, dass sich sein Gesundheitszustand schnell verschlechterte und er nicht mehr der Mann war, der er sein ganzes Leben lang gewesen war. Aber was für mich am schwierigsten zu beobachten war, war, dass aus der Sorge meiner Mutter um meinen Vater und der Tatsache, dass sie überfordert war, eine Menge Spannungen und Ungeduld mit meinem Vater entstanden, was mein Vater in seinem Zustand überhaupt nicht mehr verstehen konnte. Ich konnte es verstehen, denn ich hatte meinen verstorbenen Ehemann über viele Monate allein gepflegt und war mehr als einmal verärgert oder ungeduldig mit ihm gewesen, wenn ich mit der Situation mal wieder überfordert war. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen ich meine Mutter fragte, ob sie ein Pflegeheim für meinen Vater in Betracht ziehen würde, wo sie ihn zwar häufig besuchen könnte, aber nicht mehr die alleinige Verantwortung für seine Pflege tragen würde, sagte sie, dass sie meinen Vater niemals in ein Heim geben würde und dass sich das anfühlen würde, als würde sie ihn “im Stich lassen”. Sie wollte nicht zuhören, als ich versuchte, ihr zu erklären, dass ein Pflegeheim gut wäre, weil es ihnen Beiden ermöglichen würde, die ihnen noch verbleibende Zeit mit “schönen Dingen” zu verbringen und nicht mehr von dem Aspekt der Pflege und der überfordernden Situation aufgezehrt zu werden.

Im April 2022, nach dem vierten Krankenhausaufenthalt in nur drei Monaten, weil er sich verletzt hatte, beschloss ich, dass es an der Zeit war, etwas zu unternehmen. Ich vereinbarte einen Termin mit der Sozialarbeiterin des Krankenhauses, und während des einstündigen Gesprächs, das ich mit ihr führte, kamen wir überein, dass mein Vater nicht zurück in das Haus meiner Eltern, sondern in ein Pflegeheim nach Wahl meiner Mutter entlassen werden sollte. Als wir meine Mutter in den Besprechungsraum riefen, um mit ihr darüber zu sprechen, schien sie erleichtert zu sein, dass die Sozialarbeiterin die Situation bereits kannte und dass eine Entscheidung mehr oder weniger getroffen worden war.  Mein Vater wurde drei Tage später vom Krankenhaus in ein Pflegeheim in der Nähe des Hauses meiner Eltern verlegt.

Ich bin mir nicht sicher, inwieweit mein Vater begriff, was geschah und wo er nun lebte. Oft schien mein Vater sehr klar zu sein; auf jeden Fall erkannte er meine Familienmitglieder bis zum Schluss, und er schien oft traurig darüber zu sein, dass er nicht mehr gehen, nicht mehr richtig sprechen, nicht mehr selbständig essen und nicht einmal mehr ohne Hilfe trinken konnte. Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem wir mit meinem Vater im Rollstuhl spazieren gingen und wir einem Mann mit Rollator begegneten und mein Vater ganz wehmütig sagte: “Das ist schön für ihn. Der hat es gut.“ Und wenn meine Mutter an seinem Bett saß und Kreuzworträtsel löste, schaute er sie an und sagte: “Ich wünschte, ich könnte das auch noch tun.” Diese Bemerkungen brachen mir das Herz in tausend Stücke, denn im Gegensatz zu vielen anderen Demenzkranken war er sich dessen bewusst, was mit ihm geschah und wie es um ihn stand. Wenn ich mit meinem Vater allein war, sprachen wir über den Tod und das Sterben. Ich glaube, mein Vater spürte, dass Tod und Sterben Themen sind, die mir keine Angst machen oder mich zurückschrecken lassen, und über die zu sprechen ich für sehr wichtig halte, da sie zum Leben gehören. Mein Vater machte oft Bemerkungen wie: “Ich glaube, der Tod ist bald da” oder “Wenn dies mein letzter Tag im Leben ist, mach dir bitte keine Sorgen um mich.” Ich fragte ihn einmal: “Wie würdest du dich fühlen, wenn heute wirklich der letzte Tag deines Lebens wäre?” Er antwortete nicht sofort, also fragte ich nach: “Traurig?” “Nein”, sagte er ohne zu zögern. “Erleichtert?” Ich versuchte es, da ich die Antwort bereits kannte. “Ja, ich wäre wirklich sehr erleichtert”, war seine unmittelbare Antwort. Da wusste ich, dass er gehen wollte.

Innerhalb weniger Monate war er erst an den Rollstuhl und dann ans Bett gefesselt. Er konnte kaum noch sprechen, seine Stimme war kaum noch ein Flüstern, und er wiederholte meist nur, was andere zu ihm sagten. Sein größtes Problem war jedoch das Schlucken, ein häufiges Problem bei Parkinson-Patienten. Da beim Versuch, zu schlucken, und dem häufigen Verschlucken, immer wieder Nahrung in die Luftröhre gelangte, litt er immer häufiger an Lungenentzündungen. Außerdem hatte er ständig Harnwegsinfekte, was bei Menschen, die einen Dauerkatheter haben leider sehr häufig der Fall ist. Als er das letzte Mal im Krankenhaus war, mussten die Ärzte ihm intravenös Nahrung geben, und als die Harnwegsinfektion meines Vaters abgeklungen war, sagten sie uns, dass die einzige Möglichkeit, meinen Vater am Leben zu erhalten, eine PEG sein würde, eine Ernährungssonde, über die mein Vater Nahrung, Flüssigkeit und seine Medikamente erhalten würde.

Meine Mutter, der Zwillingsbruder meines Vaters, mein Bruder und ich kamen zusammen, um zu diskutieren: Würden wir meinem Vater eine Ernährungssonde legen und ihn länger bei uns behalten, obwohl sein Leben keine Qualität mehr hatte, keine Freude und kein Glück für ihn, nichts, wofür es sich zu leben lohnte, er keine schönen Erinnerungen mehr machen konnte? Oder würden wir uns von nun an für eine palliative Versorgung entscheiden, was bedeuten würde, ihn ohne die Ernährungssonde – ohne Nahrung, ohne Flüssigkeit und ohne Medikamente – zurück ins Pflegeheim zu entlassen und der Natur ihren Lauf zu lassen? Für Menschen, die nicht medizinisch ausgebildet sind, mag dies grausam erscheinen: Würde jemand ohne Nahrung und ohne Wasser nicht einen grausamen Tod sterben? Aber ich kann Ihnen sagen, wenn ein Mensch bereits “auf dem Weg” ist, führt das Absetzen jeglicher Behandlung, jeglicher Nahrung und jeglichen Wassers nur dazu, dass die Person schwächer wird und schließlich in einen Schlaf fällt, der bald in eine Bewusstlosigkeit übergeht, aus der sie nie wieder erwacht. Meiner Mutter fiel die Entscheidung so schwer. Sie sagte, sie habe das Gefühl, ihn mit der Entscheidung gegen die PEG “zum Tode zu verurteilen”. Ich sagte immer wieder: „Wenn wir ihm die PEG legen, schenken wir ihm nicht mehr Leben, wir verlängern lediglich sein Leiden.“ Ich erinnerte alle Familienmitglieder außerdem immer wieder daran, dass mein Vater selbst ein ums andere mal gesagt hatte, dass er nicht mehr Leben wollte, dass das Leben „elendiglich“ sei, dass er genug hatte. Es war so schwer für sie, aber schließlich stimmte sie zu, dass es richtig war, sich gegen die PEG und für palliativ zu entscheiden. Das taten wir dann auch.

Mein Vater lebte noch sieben Tage und vier Stunden, nachdem er ins Pflegeheim entlassen worden war. In den ersten zwei Tagen war er noch bei Bewusstsein. Dann glitt er langsam in den Schlaf und in eine tiefe Bewusstlosigkeit, aus der er nicht noch einmal aufwachte. Heute wünschte ich, wir hätten ihn auf die Palliativstation des Marienstift Krankenhaus in Braunschweig verlegen können, wo ich seit April diesen Jahres arbeite und wo ich so manche palliative Sedierung miterlebt und begleitet habe. Unter der palliativen Sedierung versteht man die Verabreichung von Medikamenten, die das Bewusstsein sterbender Patienten dämpfen, um belastende Symptome wie Schmerzen oder Angst in der letzten Lebensphase auszuschalten. Gemäß dieser palliativmedizinischen Definition ist Symptomkontrolle dabei das einzige Ziel. Aber auch ohne palliative Sedierung waren die letzten Tage meines Vaters friedlich. Nur einmal, als er mir etwas unruhig schien, bat ich den Palliativarzt, ihm etwas Angstlösendes zu geben und ein anderes mal ein Fieber mit Novamin zu senken. Ich hatte immer den Eindruck, dass mein Vater, wenn er hätte sprechen können, zu uns gesagt hätte: “Danke, dass ihr mich sterben lasst. Lasst mich jetzt einfach in Ruhe, aber nicht allein. Und lasst mir meine Zeit. Ich gehe, wenn ich so weit bin.” Meine Mutter war fast rund um die Uhr bei ihm. Auch ich war die meiste Zeit über da. All unsere Familienmitglieder kamen zu Besuch und verabschiedeten sich mit meiner Hilfe von ihm. Es war eine seltsame Zeit für mich, weil ich sowohl in der Rolle der liebenden Tochter als auch in der Rolle der Doula (Sterbebegleiterin) war. Wie viele Sterbende und ihre Angehörigen hatte ich bereits auf diese Weise begleitet! Und wie anders war es jetzt, da es sich um meinen geliebten Vater handelte!

Als ich am letzten Tag von meiner Mittagspause ins Pflegeheim zurückkehrte, fand ich meine Mutter beunruhigt vor, weil sich die Atmung meines Vaters verändert hatte. Ich wusste, was das bedeutete und erklärte es ihr so behutsam wie möglich. Dann rief ich den Palliativarzt an und bat ihn, vorbeizukommen und meinem Vater eine kleine Dosis Morphium zu geben, “um ihm das Atmen ein wenig zu erleichtern”. Sowohl der Arzt als auch ich wussten, dass das Morphium in Wirklichkeit nicht die Atmung meines Vaters verbessern sollte – über diesen Punkt war mein Vater schon lange hinaus -, sondern vermutlich den Sterbeprozess beschleunigen würde. Auch hier könnten Menschen, die nicht medizinisch ausgebildet sind, sagen, dass wir das nicht hätten tun sollen, und sich fragen, warum er Morphium erhalten sollte, wenn es nicht wirklich nötig war. Aber ich kann Ihnen sagen, dass diese relativ kleine Dosis Morphium ihm geholfen hat, nicht noch ein paar Stunden oder sogar einen Tag lang dazuliegen, während meine Mutter von Minute zu Minute verzweifelter wurde, sondern stattdessen innerhalb weniger Minuten endlich aus- und nicht wieder einzuatmen.

“Einschlafen dürfen, wenn man müde ist”. Mein Vater war müde. Das hatte er uns in den letzten fünf Monaten seines Lebens immer wieder gesagt. Es macht mich glücklich zu wissen, dass wir ihm seinen letzten Wunsch erfüllen konnten. Es ist vollkommen in Ordnung, für immer einzuschlafen, wenn man müde ist und nicht mehr ein Leben, das einmal so schön war, aber nun zu so viel Leid geworden ist, weiterleben möchte.

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