Eine Palliativstation ist keine “Sterbestation”!

Palliativmedizin ist noch ein relativ neues Konzept, und viele Menschen haben noch keine klare Vorstellung davon, was Palliativmedizin ist. Viele Menschen glauben immer noch, dass eine Palliativstation eine “Todesstation” ist, eine Station, auf die man nur kommt, wenn der Tod sehr nahe ist. Andere Patienten wiederum hoffen, dass sie auf einer Palliativstation aktive Sterbehilfe erhalten. Weder ist eine Palliativstation eine “Sterbestation”, auf die man nur kommt, wenn der Tod unmittelbar bevorsteht, noch ist aktive Sterbehilfe auf einer Palliativstation möglich. Um diese Missverständnisse auszuräumen, möchte ich in diesem Blogbeitrag das Konzept der Palliativversorgung und der Palliativstationen erläutern.

Palliativmedizin definiert

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Palliativpflege als “aktive, ganzheitliche Behandlung von Patienten mit fortgeschrittener Krankheit und begrenzter Lebenserwartung. Höchste Priorität hat dabei die Behandlung von Schmerzen sowie von psychologischen, sozialen und spirituellen Problemen”.

Der Begriff “palliativ” leitet sich vom lateinischen “pallium – Mantel” oder “palliare – einen Mantel um etwas legen” ab. In der medizinischen Alltagspraxis bedeutet die Bewertung palliativ, dass eine Heilung der zugrunde liegenden Krankheit nicht mehr möglich ist. Aber auch wenn eine Krankheit grundsätzlich unheilbar ist, kann viel getan werden, um das durch die Krankheit verursachte Leiden zu lindern; und genau das ist der Ansatz der Palliativmedizin.

Auf einer Palliativstation arbeitet ein multidisziplinäres Team aus in Palliativmedizin ausgebildeten Ärzten und Pflegekräften, Seelsorgern, Psychoonkologen, Psychologen, Sozialarbeitern, Physiotherapeuten und Komplementärmedizinern eng zusammen, um den Patienten zu helfen, in der ihnen verbleibenden Lebenszeit die bestmögliche Lebensqualität zu erreichen.

Die Grundsätze der Palliativmedizin

Leider ist die moderne Medizin sehr “körperorientiert”. Nach den Grundsätzen der Palliativmedizin werden aber nicht nur die körperlichen Symptome betrachtet, sondern der Mensch in seiner Gesamtheit: seine körperlichen Symptome, sein soziales Umfeld, sein psychisches und spirituelles Wohlbefinden. Meiner Meinung nach ist es diese ganzheitliche Betrachtung des Patienten, die Palliativmedizin zu einem besonderen und äußerst wichtigen Behandlungskonzept macht.

Wir können einen Menschen nicht einfach aus seinem sozialen Umfeld herausnehmen und ihn ausschließlich in seiner Rolle als Patient beurteilen. Das ist letztlich nur ein sehr kleiner Ausschnitt dieses Menschen. Viel mehr wird er/sie von all den anderen Rollen in seinem/ihrem Leben geprägt: Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Sohn, Tochter, Ehemann, Ehefrau, Freund, Nichte, Neffe, Schwager, Schwägerin, Großmutter, Großvater, Arbeitskollege… Und natürlich alle Erfahrungen, die er/sie jemals in seinem/ihrem Leben gemacht hat.

Gründe für die Palliativmedizin

Die meisten Patienten, die von der Palliativmedizin betreut werden, leiden an Krebs. Palliativmedizin kann aber auch bei jeder anderen nicht heilbaren Krankheit eingesetzt werden. Dazu gehören zum Beispiel Multiple Sklerose, Parkinson, Herz- oder Lungenkrankheiten. Und natürlich gibt es auch Palliativpatienten, die auf einer Palliativstation sterben. Aber viele Palliativpatienten sind auf einer Palliativstation, um ihre Medikamente neu einzustellen. Andere Palliativpatienten sind auf einer Palliativstation, damit unangenehme Krankheitssymptome oder Nebenwirkungen ihrer Medikamente behandelt werden können. Und wieder andere Palliativpatienten sind auf einer Palliativstation, weil in ihrer häuslichen Pflege eine Situation eingetreten ist, die eine weitere Versorgung zu Hause unmöglich macht, und nun eine Pflegeeinrichtung oder ein Hospiz gefunden werden muss.

Wann sollte jemandem Palliativmedizin angeboten werden?

Bei meiner Arbeit mit Palliativpatienten komme ich nicht umhin, darüber nachzudenken, was für ein Segen und Fluch unsere moderne Medizin zugleich ist. Sie ist ein Segen, weil wir dank ihr heute so viele Krankheiten behandeln und sogar heilen können. Dank der Fülle an Schmerzmitteln können heute auch die stärksten Schmerzen gelindert werden. Ebenso können Organe transplantiert werden, und die Bestrahlung kann viel gezielter erfolgen als früher, so dass kaum noch Gewebe geschädigt wird… Und doch ist die moderne Medizin auch ein Fluch, denn sie macht es für viele – Patienten, Angehörige und medizinisches Personal – immer schwieriger zu spüren, wann wir aufhören sollten, wann wir loslassen sollten, wann es NICHT mehr darum geht, Leben zu erhalten, sondern darum, das Leben loslassen zu können und sich auf das Leben einzulassen, statt um es zu kämpfen. Natürlich kann ein stark geschwächter Krebspatient die vierte Chemotherapie versuchen, in der Hoffnung, dass sie seinen Krebs endgültig besiegt oder ihm zumindest viele weitere Jahre verschafft, aber ich persönlich würde einem durch frühere (und erfolglose) Krebsbehandlungen stark geschwächten Patienten eher raten, keine weitere Chemotherapie zu versuchen und stattdessen gemeinsam mit dem Palliativteam zu überlegen, wie er die ihm verbleibende Zeit so schön und angenehm wie möglich gestalten kann. Ganz allgemein denke ich, dass mit dem rasanten Fortschritt in der modernen Medizin auch unsere Verantwortung zunimmt; es wird immer wichtiger zu erkennen, wann wir die uns zur Verfügung stehenden Medikamente und Maßnahmen einsetzen sollten und wann es besser ist, darauf zu verzichten, wann es sich lohnt zu kämpfen und wann es Zeit ist, der Natur ihren Lauf zu lassen.

Medikamente in der Palliativmedizin werden eingesetzt, um das Leiden von Palliativpatienten zu lindern. Und wenn ich von “Leiden” spreche, meine ich die körperlichen, geistigen, sozialen und spirituellen Aspekte des Leidens, wie sie im Konzept des totalen Schmerzes von Cicely Saunders beschrieben sind, das ich in meinem nächsten Blogeintrag erörtern werde. Bei der Palliativmedizin geht es darum, die Lebensqualität zu erhalten und zu verbessern, auch wenn dies möglicherweise eine Verkürzung des Lebens bedeutet.

Abschließend möchte ich Sie mit diesem Zitat verabschieden:

“Hoffnung ist nicht Optimismus! Es ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgehen wird, sondern die Gewissheit, dass etwas einen Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.”

Vaclav Havel

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