

In diesem Blogbeitrag möchte ich Ihnen gerne mehr über meine Blindheit und mein alltägliches Leben erzählen. Ich bin blind geboren, da meine Netzhaut nicht vollständig ausgebildet wurde. Das bedeutet, dass ich nie etwas Anderes gekannt habe, außer blind zu sein. Von Anfang an habe ich mich ohne sehen zu können in der Welt zurechtfinden müssen. Da ging es mir viel besser als einem Menschen, der erst im Laufe seines Lebens sein Augenlicht verliert und sich erst daran gewöhnen muss, die Welt nicht mehr visuell erfassen zu können.
Kindheit und Jugend
Ich hatte Eltern, die mich zur Selbständigkeit erziehen wollten. Das ist nicht selbstverständlich. Leider gibt es viele Eltern, die ihre blinden Kinder über behüten und „in Watte packen wollen“, und je mehr das mit einem blinden Kind geschieht, desto schwieriger wird es das Kind später haben, ein eigenständiges Leben zu führen. In meinem Fall war es eben so, dass meine Eltern mich ganz normal haben aufwachsen lassen. So durfte ich hinfallen und mir die Knie aufschürfen, durfte lernen, dass ich mich an Dingen stoßen und mir wehtun kann, weil ich sie nun einmal nicht sehe, dass ich, genau wie andere Kinder auch, draußen spielen und herumtoben kann… Und natürlich lernte ich dadurch, dass ich zwar nicht alles sehe, aber dennoch ein überwiegend „normales“ Leben führen kann und dass nichts unmöglich ist, wenn man einen Weg finden will. Als ich 13 Jahre alt war, verließ ich das Elternhaus, um in Marburg an der Lahn auf das damals einzige Gymnasium für Blinde und Sehbehinderte zu gehen, weil für mich ganz klar war, dass ich mein Abitur machen wollte. Die Tatsache, dass ich dort im Internat war und nur alle zwei Wochen an den Wochenenden und in den Ferien nach Hause kam, und dass das Konzept dieses Internats mit seinen überall in der Stadt verteilten Wohngruppen, seinem Blindenstocktraining und dem Training in lebenspraktischen Fertigkeiten (kochen, bügeln, Staub saugen, etc.) einen zur Selbstständigkeit erzieht, waren ebenfalls sehr hilfreich bei der Entwicklung meiner Selbstständigkeit.
Große Liebe und Auswanderung nach Irland
Nach dem bestandenen Abitur durchlief ich verschiedene Ausbildungen. Während einer dieser Ausbildungen traf ich 2009 meinen späteren Ehemann Paul und wanderte 2010 nach Irland aus, um dort mit ihm ein gemeinsames Leben aufzubauen. Das war auch die Zeit, in der ich meine Selbstständigkeit als Komplementärmedizinerin aufnahm, weil ich als Fremdsprachensekretärin trotz eines Abschlusses mit 1,7 einfach keine Arbeit fand – leider ein Problem, das viele blinde Menschen erleben, da sich viele sehende Arbeitgeber einfach nicht bereit erklären oder im Stande sehen, einen seheingeschränkten Menschen einzustellen. Glücklicherweise hatte ich während meiner Schulzeit in Marburg diverse Ausbildungen in alternativen Heilmethoden gemacht und erfolgreich bestanden, so dass ich nun diesen Berufsweg einschlagen konnte.
180° Wende meines Lebens
Nachdem ich im Jahr 2018 meinen Ehemann an Krebs verlor und mich im Anschluss mit meiner Trauer auseinandergesetzt hatte, folgte ich meiner Berufung – die ich schon während Pauls Krankheit gespürt hatte – und machte in Großbritannien eine fundierte Ausbildung zur Doula für Sterbe- und Trauerbegleitung. Familiäre Umstände sowie die COVID-19 Pandemie führten mich letztendlich zurück nach Deutschland, wo ich heute mit meinem Fachwissen, meiner persönlichen Erfahrung und meiner Empathie den Patientinnen und Patienten des Marienstift Krankenhauses Braunschweig sowie den Patientinnen und Patienten in den umliegenden Palliativnetzen zur Verfügung stehe.
Blind ist nicht gleich blind
Jeder blinde Mensch ist anders. Blind ist wirklich nicht gleich blind. Wie jemand mit seiner Blindheit umgeht, hängt stark von der eigenen Persönlichkeit und den äußeren Umständen, in denen man aufwächst, ab. Es gibt (leider) viele blinde Menschen, die sehr unselbstständig sind, nicht gut mit den praktischen Dingen des Alltags zurechtkommen, für sehr Vieles Hilfe brauchen, keinen Beruf ausüben… Und dann gibt es blinde Menschen wie mich, die sich von ihrer Einschränkung nicht einschränken lassen und deren Anspruch es ist, ein so „normales“ Leben, d.h., ein Leben wie ein normal sehender Mensch, zu führen wie möglich.
„Wie machen Sie das trotz Ihrer Blindheit?“ – Ich kann es nicht sagen. Ich habe einfach immer daran geglaubt, dass ich ein (mit nur wenigen Abstrichen) gleiches Leben leben kann wie andere Menschen auch. Ich glaube, dass es oft nicht die körperlichen Einschränkungen (die wir auch körperliche Behinderungen) nennen, sind, die uns einschränken, sondern vielmehr die Gedanken der Gesellschaft wie: „Das geht doch nicht!“ „Wie soll das gehen?“ „Das kann doch jemand der blind ist nicht!“ „Können wir ihm/ihr das zutrauen?“ Ich probiere alles aus. Und beim Ausprobieren erkenne ich dann (ich als Betroffene) meine eigenen Grenzen. „Wie kann ein blinder Mensch in der Pflege arbeiten?“ Natürlich kann er das. Er kann vielleicht kein Wund-Management machen, weil er dazu die Wunde visuell beurteilen muss, aber er kann dem Patienten Essen und Trinken anreichen, ihn waschen, ihn lagern, ihn mobilisieren, ja, ihm sogar eine Injektion geben und, wenn die entsprechenden (sprechenden) Geräte angeschafft werden, auch Blutzucker und Blutdruck messen. Ich als Betroffene weiß das. „Kann ein blinder Mensch sich überhaupt etwas zu essen kochen?“ Natürlich kann er das. Er wird sich dabei auf seinen Tast- und Geruchssinn und sein Gehör verlassen und seine eigenen Tricks entwickeln, wie er ein leckeres Essen kochen und die Küche sauber halten kann. Es gibt übrigens auch sprechende Küchengeräte und Küchengeräte mit Markierungen in Blindenschrift. „Kann sich ein blinder Mensch allein in einer fremden Stadt zurechtfinden?“ Natürlich kann er das. Er benutzt das Navigationssystem auf seinem Handy und hat einen Blindenstock oder einen Blindenführhund, manchmal auch beides, und außerdem einen Mund, um nach dem Weg zu fragen, sollte das alles nicht ausreichen. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft endlich damit beginnt, ihre Lead von den Betroffenen zu nehmen, d.h., die Betroffenen beurteilen zu lassen, ob sie etwas können oder nicht, anstatt zu versuchen, das selbst zu beurteilen, denn das geht – in den allermeisten Fällen – gründlich daneben.
Integration ja – Inklusion nein
Das Wort „Integration“ ist schon lange in aller Munde. Die „Behinderten“ müssen integriert werden. Und ich glaube, dies ist auch ziemlich gut gelungen. So gibt es schon lange die integrative Beschulung, d.h., seheingeschränkte Kinder und normal sehende Kinder gehen gemeinsam zur Schule. Auch wird immer mehr auf Barrierefreiheit in öffentlichen Gebäuden geachtet. Wenn nun aber von „Inklusion“ die Rede ist, so kann ich nur sagen: Gibt es nicht! Solange es noch Berufe gibt, aus denen wir mit der Begründung ausgeschlossen werden, dass wir das sowieso nicht könnten, solange man uns bestimmte Dinge einfach nicht zutraut, anstatt uns als Betroffene zu fragen, ob wir uns das zutrauen, haben wir keine Inklusion, sondern eine Gesellschaft, die uns unmündig macht, die glaubt, dass sie es besser beurteilen und verstehen kann als wir. Das kann nur scheitern.
Blindheit als Vorteil in der Arbeit mit Sterbenden
In meiner Arbeit mit sterbenden Patienten und trauernden Angehörigen ist meine Blindheit vielfach ein Vorteil. Dadurch, dass ich blind bin, sind meine anderen Sinne (vor allem das Gehör), aber auch eine Art „Spürsinn“, eine subtile Wahrnehmung von Energien um mich herum, stärker ausgebildet als bei sehenden Menschen. Das ist besonders dann von Nutzen, wenn ich mit Patienten umgehe, denen das Sprechen schwer fällt oder die nicht mehr sprechen können. Da passiert dann nämlich eine nonverbale Verständigung, die manchem Sehenden verschlossen bleibt, weil er/sie viel zu sehr darauf fixiert ist, mit dem Sehsinn wahrzunehmen: ist der Patient blass? Ist er grau im Gesicht? Hat sich die Hautfarbe geändert? Das alles ist nicht unbedingt wichtig für mich zu wissen – interessant vielleicht, aber nicht notwendig -, denn ich habe meine eigenen Wege zu spüren, wie es um einen Patienten steht. Manchmal ist das Nicht-Sehen-Können auch von Vorteil für die Patienten, die sich wohler fühlen, wenn sie nicht „gesehen“ werden. Das finde ich vor allem bei Patienten, die sich mit ihrem Aussehen, das sich vielleicht auch durch die Erkrankung verändert hat, nicht wohlfühlen. Vor mir brauchen sie sich nicht zu schämen, denn ich sehe sie sowieso nicht. Mir haben im Laufe der Jahre schon Kollegen zurückgemeldet, dass sie erstaunt waren, dass sich ihnen ein bestimmter Patient gar nicht öffnen wollte, während er mit mir stundenlang sprechen konnte. An solchen Beispielen merke ich dann immer wieder, dass es auch gut sein kann, nicht zu sehen, weil es gar nicht jedem recht ist, gesehen zu werden.
Das Wegfallen des Schleiers
Was mir in meiner Arbeit mit Sterbenden schon immer auffällt, ist, dass sie meine Blindheit als völlig normal hinnehmen. Ich glaube, dafür gibt es zwei Gründe. Erstens passiert im Sterbeprozess an einem bestimmten Punkt etwas, das ich in meinem Buch „Wenn Liebe Loslassen bedeutet“ „Wegfallen des Schleiers“ nenne, wo plötzlich alle Befangenheit und das Festhalten an Konventionen von diesem Menschen abfallen und er mit einer unglaublich großen Offenheit und Unbefangenheit und Neugier lebt; da gibt es keine verunsicherten Fragen, kein Infragestellen meiner Kompetenz oder der Situation, in der wir uns befinden. Der zweite Grund ist meiner Meinung nach, dass durch das Wegfallen des Schleiers eine ganz große Offenheit und Berührbarkeit entstehen, in der Kommunikation auf einer ganz feinen Ebene stattfindet, und das ist das Gespür, von dem ich vorhin gesprochen habe und das ich schon mein ganzes Leben lang lebe, um damit den fehlenden Sehsinn ein Stück weit zu kompensieren; und im Grunde genommen glaube ich, dass sich jeder Einzelne von uns nach dieser tief spirituellen Kommunikation sehnt.
Haben Sie Fragen zu meinem Alltag als Blinde? Oder zu meiner Arbeit?
Schreiben Sie mir gerne! Ich freue mich über Ihre Fragen!